Wie zur Hölle ist er hier bloß hingekommen?
Emil kennt die Antwort auf diese Frage nicht.
Was er ebenfalls nicht kennt, ist die nasskalte Kleinstadt, die am Fenster vorbeizieht: Baumreihen - kahl gefroren-, hin und wieder ein abgestoppeltes Feld, dann wieder geduckte Häuser- dreckig weiß-, kunstvoll verziert von ein paar Schmutzfinken, die sich für Picasso halten.
„Ein bisschen wie zu Hause”, denkt er, und: „Nur nicht ganz.”. Weil er das Gewicht seiner Worte spürt, schaut er in den Himmel: Der ist ja glücklicherweise überall derselbe.
Er blickt in tiefstes Dunkelgrau: Ein müder Tag, der sich heute entschieden hat, gar nicht erst aufzustehen, neigt sich dem Ende.
Und da neigt Emil seinen Kopf, neigt ihn in Richtung Fahrerseite, um mit Entsetzen festzustellen, dass er den Kerl am Lenkrad nicht kennt.
„Wer sind Sie?”
Es dauert einige Momente bis Emil diese Frage über die Lippen bringt. Fieberhaft hat er zuvor seine Erinnerung durchwühlt, ob er das Gesicht des Mannes nicht schon irgendwo einmal gesehen hat – Erfolglos.
Was ihn darüber hinaus beunruhigt: Auch über den Ablauf des heutigen Tages schweigt sein Gedächtnis. Nach seinem orischen Morgenkaffee, verlaufen sich die Stunden im Sand.
„Ich hab’ auch meinen Stolz- Ich muss den nicht fragen.”, denkt Emil und: „Früher oder später wird sich sowieso zeigen, was los ist, was verflixt nochmal das Ganze soll.”, und ein paar Sekunden später: „Das wär ja gelacht, wenn ich das nich’ von allein rauskriege”.
Da bahnt sich von hinten eine Kinderhand ihren Weg zum Radio. Klein, zart und weiß ist sie und drückt so zielsicher auf einen der rund dreißig Knöpfe, als hätte sie noch nie etwas anderes gemacht. Auf einmal ertönt ein ohrenbetäubender Krach, der anscheinend Musik sein soll. „Mariaaa! Mach das leiser, verflucht noch Eins!”, brüllt der Fahrer, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
Ebenfalls zu Tode erschrocken, dreht sich Emil um und schaut in das Gesicht eines kleinen Mädchens, mit zwei Zöpfen und großen, runden Brillengläsern. Sie lächelt und dreht leiser.
Die Musik klingt schrecklich süß und überzuckert, unecht, flach und, was am Schlimmsten ist, vollkommen fremd.
Da ist es ihm zu viel. Sprachlos schaut Emil zuerst das Radio, dann das kleine Mädchen im Rückspiegel, dann den Fahrer neben sich an. Schließlich öffnet er den Mund.
„Aber Päpschen! Du kennst mich doch. Ich bin’s der Ulli, der Mann von der Johanna!”
„Johanna?! Aber das ist nicht möglich. Die Johanna ist artig, die hat doch noch nie einen Freund mit nach Hause gebracht!”
Der Mann, namentlich Ulli, lacht schallend und deutet mit dem Daumen auf die Rückbank: „Ja, und wer denkst du ist sie da?”
Emil zögert kurz, dann muss er die Schultern zucken.
„Na hör mal! Das ist doch Maria: Johannas Tochter, dein Enkelkind?!”.
Emil hört die Worte, aber er versteht sie nicht. Seltsam wie er nun einmal ist, muss er an eine Sanduhr denken.
Ganz deutlich sieht er sie vor sich: Ein gläserner Doppelkegel, dessen untere Hälfte bereits reichlich gefüllt ist. Und je länger er schaut, desto deutlicher beginnen sich die Konturen eines Mannes abzuzeichnen, der bis zum Hals in der Zeit steckt und mit beiden Händen hilflos gegen das Glas presst. Heller Sand rieselt unentwegt auf seinen Kopf, färbt sein Haar schlohweiß, formt sich zum Haufen, droht ihn zu ersticken.
Da erkennt Emil den Mann und klappt den Deckenspiegel auf.
Aus dem Spiegel, starrt ihn ein alter Mann mit Halbglatze und braunen, tränenfeuchten Augen an. „Wenigstens die Augen”, denkt Emil, „sind dieselben geblieben”.
Betroffen senkt er seine Lider und atmet aus und wieder ein – seine Wangen werden nass dabei.
Als er seine Augen wieder öffnet, blickt er in den Himmel - der ist ja glücklicherweise überall derselbe. Dann dreht er sich im Sitz um und streckt Maria seine Hand entgegen:
„Hallo, ich bin Emil. Schön, dich kennenzulernen.”